Der Jagdfries am Kaiserdom Königslutter

Stiftskirche Königslutter, Ansicht von Südost, fotografiert um 1895
Grundriss der Stiftskirche Königslutter

RÄTSELHAFTE JAGDSZENEN

Der Jagdfries, Stiftskirche Königslutter, entzerrte Ansicht

 

ZWEI HASEN BESIEGEN DEN JÄGER

Der Jagdfries, Stiftskirche Königslutter, Ansicht von Osten

An der Ostapsis des Kaiserdoms sind neun Szenen einer sehr seltsamen Jagd eingemeißelt. (1) Die ersten acht Szenen zeigen zunächst noch ein ganz gewöhnliches Jagdgeschehen: Zwei Jäger blasen ins Horn und hetzen ihre Hunde auf Hasen, Wildschwein und Hirsch. Ein kleiner Jagdhund beißt in den Nacken eines Hasen und tötet ihn, während ein großer Jagdhund sich in den Nacken eines wehrhaften Wildschweins verbeißt und ein Hirsch seinen Verfolgern zu entkommen scheint. Schließlich sehen wir einen erfolgreichen Jäger mit einem erlegten Hasen. Soweit ist alles völlig normal verlaufen.

Das zentrale Jagdfriesrelief, aufgenommen aus einem Winkel von 90°

Doch dann schlägt die Handlung plötzlich um und wir sehen in der letzten Szene, wie der Jäger auf dem Rücken liegend von zwei Hasen in Fesseln geschlagen wird. Aus dem Jäger ist eine Jagdbeute geworden.

 

DIE TRIUMPHIERENDE BESTIE

Das zentrale Jagdfriesrelief aus der Sicht des Betrachters
Die Hasenköpfe bilden eine klar konturierte Herzform

Die beiden Hasen glotzen böse und in ihren Mäulern blecken Reißzähne wie bei fleischfressenden Raubtieren. Ihre Raubtiernatur offenbart ein Vexierbild, das die grinsende Fratze des Teufels zeigt: Die Fesseln der beiden Hasenköpfe bilden sein Maul, die nach innen gekehrten Hasenohren sind seine Hörner und die nach außen gekehrten Hasenohren seine Ohren. Die beiden Hasenköpfe werden durch ein emblematisiertes Herz konturiert. Das Herz gilt im Mittelalter als Sitz der Seele.

Künstlerisch-freie Gestaltung des Vexierbildeffekts: Doppelleibiges Hasenmonster mit Raubtierschädel

Ein Vexierbild kann nur vom Betrachter erschaffen werden. Es existiert als Scheinbild ausschließlich in der Fantasie des Betrachters.
Das Vexierbild in den Hasenköpfen zeigt die Bindung des Betrachters an den sterblichen Körper und den Tod, der in Gestalt des Teufels droht. Der Terminus „Vexierbild“ ist abgeleitet vom lateinischen Verb „vexare“ (lat.: „quälen, hin- und hereißen“). Der Betrachter ist hin- und hergerissen zwischen dem Quälbild des lauernden Todes in Gestalt der triumphierenden Bestie und dem Bild vom Triumph des Lebens in Gestalt der siegreichen Hasen.
Hasen gelten als schwach und ängstlich, sind aber auch Sinnbilder für sinnliches Verlangen und Fruchtbarkeit. Passend dazu stehen sich in Königslutter die beiden Hasen wie „die Märzhasen“ bei der sogenannten „Hasenhochzeit“ auf den Hinterläufen aufgerichtet gegenüber, während sie sich mit den Vorderläufen wie zwei Boxer bekämpfen. Nach diesem „Vorspiel“ werden sie sich paaren.
Da die Hasen die fruchtbarsten Säugetiere sind, steht der Sieg der Hasen symbolisch für den Fortbestand des Lebens, das sich beständig erneuert. Die Fesseln des Jägers zeigen die Bindung des Körpers an den Kreislauf von Geburt und Tod.

 

DIE DREIFALTIGKEIT

Die Kerbe im Rundbogenprofil verbindet die beiden Hasenköpfe

Vexiereffekte basieren auf grundlegenden Organisationsprinzipien der Wahrnehmung. Das Wahrnehmungsfeld wird im Sehvorgang räumlich gegliedert in gegenständlich Geformtes und Begrenztes, das eine Figur darstellt und in Ungeformtes und Unbegrenztes, das den Grund bildet. Zieht eine Figur den Blick auf sich, bleibt der Grund unbedeutend. Ist eine Figur nicht prägnant ausgearbeitet, kann es zu Umkehrungen von Figur und Grund kommen. Eine vexierbildliche Darstellung, die neben dem sofort erkennbaren Motiv noch ein weiteres enthält, das erst bei intensiverem Hinsehen sichtbar wird, beruht vor allem auf der Vertauschung von Figur und Grund. In Königslutter sind Figur und Grund so verbunden, dass entweder zwei Hasenköpfe oder der Kopf einer Bestie erkennbar sind. Die beiden Bilder sind also nur nacheinander, nicht nebeneinander identifizierbar.
Wurden in einem Vexierbild eine oder gar mehrere Figuren gefunden, so sind die Reizmuster im Sinne des Bildkonzeptes organisiert und das oder die Objekte können bei jeder weiteren Betrachtung wiedergefunden werden. In Vexierbildern erkennen wir entweder durch Zufall oder nach gezieltem Suchen das zweite Objekt. Der Vexiereffekt in Königslutter ist jedoch kein Zufallsprodukt. Das beweist eine im Rundbogenprofil der Blendarkade eingemeißelte Kerbe, die die beiden Hasenköpfe verbindet. Die Kerbe konturiert aus ebenerdiger Sicht die Oberkante der Teufelsnase. Das beweist, dass der Bildhauer den Vexiereffekt auf den Betrachter bezogen konzipiert hat.

Links: Auseinander gefaltete Goldfolie eines modernen Schokoladenhasen / Mitte: Silhouette der beiden Hasen im Jagdfrieszentrum / Rechts: Die Hasen im Jagdfrieszentrum als Wolpertinger

Das Vexierbild in Königslutter zeigt einen doppelleibigen Körper, der genauso konstruiert ist wie die Goldfolie eines modernen Schokoladenhasen. Faltet man die Goldfolie auf einer Fläche auseinander, sind insgesamt drei Hasenköpfe zu erkennen: Einer im Profil nach rechts, ein zweiter im Profil nach links und ein dritter en face. Diese drei Hasenköpfe bilden auf der entfalteten Goldfolie „wörtlich“ eine „Dreifaltigkeit“, die laut Definition des Kirchenvaters Augustinus „der eine und einzige Gott ist“, von dem „man zu recht sagt, glaubt und einsieht, dass Vater und Sohn und heiliger Geist von einer Substanz und eines Wesens sind“. (2)
Teilt man die Körper der beiden Hasen in Königslutter nach dem Vorbild des Schokoladenhasen spiegelbildlich in zwei Hälften und fügt die Hälften des rechten und linken Hasen zu einem einzigen dreidimensionalen Körper zusammen, dann bleiben die nach innen gerichteten Hasenohren auf dem Schädel wie Hörner stehen. Der Hase wird zum Wolpertinger und zum Ausdruck einer höllischen Trinität.

 

TEUFLISCHE WESEN

Links: Doppelleibiges Monster als Menschenfresser, Kapitell, St. Pierre, Chauvigny (Vienne) / Rechts: Fratze zwischen zwei ins Horn blasenden Hasen, Kapitell, St. Pankratius, Hamersleben

Das doppelleibige Vexierbild-Monster in Königslutter wird den gefesselten Jäger fressen. Bilder von menschenverschlingenden doppelleibigen Monstern sind auf romanischen Reliefs ein gängiger Topos. Im Kloster Hamersleben ist eine Teufelsfratze zwischen zwei Hasen dargestellt, die als Jäger ins Horn blasen. Ähnlich wie der Jäger in Königslutter trägt auf dem antiken Grabmal des Lucius Poblicius der Gott Pan einen erlegten Hasen als Beute heim. Pan ist mit teufelsartigen Hörnern und einem unübersehbar erigierten Glied dargestellt. Das Relief ist Teil eines turmartigen Grabmals aus römischer Zeit. Mittelalterlichen Quellen zufolge standen noch zu Kaiser Lothars Zeit weitere in der Antike errichtete Grabbauten dieser Art an der Straße von Köln nach Bonn. (3) Pan lieferte das Vorbild für den christlichen Teufel. Möglicherweise hat die Darstellung Pans auf dem Grabmal des Lucius Poblicius die Darstellung der Hasen und des Jägers im Jagdfries an der Grabeskirche Kaiser Lothars III. direkt beeinflusst.

Links: Pan mit Phallus und erlegtem Hasen, Grabmal des Lucius Poblicius / Rechts: Zweileibiger Hase, von einem Adler ergriffen, Kapitell, San Michele, Pavia

 

DIE FESSELN BILDEN BUCHSTABEN

Entscheidend für die Lösung des Jagdfriesrätsels sind die Fesseln an den Händen und Füßen des Jägers, denn diese sind auch als Buchstaben lesbar:

Klar und deutlich hat der Bildhauer auf der Fußfessel den Buchstaben „I“ konturiert.

Zudem bildet die Handfessel den Buchstaben „C“ und die Fesseln, die die beiden Hasenköpfe miteinander verbinden, formen den Buchstaben „Y“ bzw. den Buchstaben „V“.

 

JESUS CHRISTUS IST DAS LEBEN

Die Buchstaben „I“ und „C“ sind die üblichen Abbreviaturen für das Monogramm Christi: Iesus Christus. Und der Buchstabe „Ypsilon“ steht bei Isidor von Sevilla für „Leben“. Isidor von Sevilla definiert das Ypsilon in seiner berühmten „Etymologiae“, einem Standardwerk des Mittelalters und Prototyp des modernen Universallexikons. Das Ypsilon ist laut Isidor der erste mystische Buchstabe. Er bezeichnet „das menschliche Leben.“ (4) Isidor definiert: „Den Buchstaben Y (Ypsilon) hat der Samier Pythagoras als Symbol des menschlichen Lebens zuerst geformt. Dessen unterer Zweig steht für das erste Lebensalter, das nicht aussagekräftig ist, weil sich ja bis dahin weder Fehler noch Tugenden gezeigt haben. Die Verzweigung aber, die übrig bleibt, beginnt mit dem Heranwachsen: dessen rechte Seite ist beschwerlich, wendet sich aber zum guten Leben (vita beata), die linke Seite aber ist bequemer, führt aber zu Fall und Untergang.“ (5) Laut Isidor gibt es insgesamt fünf mystische Buchstaben: Ypsilon, Theta, Tau, Alpha und Omega. (6) Der Buchstabe „Y“ ist im Jagdfries so gestaltet, dass er auch als „V“ lesbar ist.
Lese ich jetzt „V“ als Abkürzung für „Vita“, dann ist die Bedeutung von „Y“ und „V“ identisch.

Iesus Christus Vita = Jesus Christus ist das Leben

Die drei Buchstaben „ICV“ stehen daher für die drei lateinischen Worte: „Iesus Christus Vita.“ Um daraus einen lateinischen Satz zu formen, muss ich noch das Verb „est“ ergänzen: „Iesus Christus Vita est.“ Das heißt: „Jesus Christus ist das Leben.“
Mit Blick auf das Vexierbild des Teufels bedeutet das: Der Teufel bringt den Tod, er fesselt den Jäger, um ihn zu fressen. Aber Jesus Christus ist das Leben, er erlöst den Jäger von den Fesseln des Todes. Ich muss nur daran glauben.

 

JESUS CHRISTUS SCHUF DAS LEBEN

Legt man diese Verdeckungen frei, dann erhält man für die Handfessel einerseits ein deutlich ausgeprägtes „Y“ und zusätzlich ein „S“. Für die Fessel über den Füßen ergibt sich ein deutliches „C“. Die dreidimensionale Darstellung der beiden Fesseln des Jägers ergibt also für die Handfessel die drei Buchstaben „Y“, „C“ und „S“ und für die Fußfessel die beiden Buchstaben „C“ und „I“.

Iesus Christus Vitam SCulpsit = Jesus Christus schuf das Leben

Zusammen bilden die drei Buchstaben „Y“, „S“ und „C“ der Handfessel und die beiden Buchstaben „I“ und „C“ der Fußfessel die Abbreviaturen für die vier Worte des Satzes: „Iesus Christus Vita(m) SCulpsit.“ Das heißt: „Iesus Christus schuf das Leben.“

 

DER NAME DES SCHÖPFERS

Die spiegelverkehrte Inschrift (grafisch hervorgehoben) im nördlichen Friesdrittel

Der Satz „Jesus Christus schuf das Leben“ löst zugleich das Rätsel, das in einer Inschrift formuliert wird, die in der nördlichen Frieshälfte in spiegelverkehrten lateinischen Buchstaben eingemeißelt ist.
Die Inschrift lautet rückwärts gelesen: „+ HOC OPVS EXIMIVM VARIO CELAMINE MIRVM + (+ Dieses hervorragende Werk ist durch mannigfaches Verbergen wunderbar +).“ Dann folgen die Buchstaben „S“ und „C“. Üblicherweise sind diese beiden Buchstaben die Abkürzung für die Signatur „sculpsit“, „er hat es geschaffen“. Doch der Name des Schöpfers fehlt. Die Rätselfrage lautet also: Wer hat „dieses hervorragende Werk“ („HOC OPVS EXIMIVM“) geschaffen? Die hier aufgeworfene Frage nach dem Schöpfer, die sich mit den beiden Buchstaben „SC“ für „SCulpsit“ stellt, wird mit den aus den Fesseln des Jägers gebildeten Buchstaben beantwortet. Statt der spiegelbildlichen Lesart und der spiegelverkehrten Schreibweise der Buchstaben „SC“ liegt in den Fesseln des Jägers deren entspiegelte Schreibweise in entspiegelter Lesart vor.

Die Buchstaben „X“ und „SC“ als Hinweis auf Christus als Schöpfer

Offen bleibt, welches „hervorragende Werk“ in der Inschrift gemeint ist? Der Fries? Die Kirche? Oder die ganze Schöpfung? Der Fries wurde von einem Bildhauer geschaffen, die Kirche von Kaiser Lothar III., die ganze Schöpfung von Christus. Letzteres passt zum „Großen Glaubensbekenntnis“, demzufolge durch Christus „alles geschaffen“ ist.

Das Große Glaubensbekenntnis
Ich glaube an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, der alles geschaffen hat, Himmel und Erde, die sichtbare und die unsichtbare Welt. / Und an den einen Herrn Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, aus dem Vater geboren vor aller Zeit: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott, gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater; durch ihn ist alles geschaffen.

Der Terminus „Werk“ kann also im weitesten Sinn auf das „Schöpfungswerk“ der Welt bezogen werden.
Ähnlich umfassend ist auch der Name Christus lesbar: Er bezeichnet nicht nur Jesus Christus, sondern auch denjenigen, der den Jagdfries in Auftrag gegeben hat, nämlich Kaiser Lothar III., der ja auch ein Christus ist, ein Gesalbter. (7) Der Kaiser ist der Gesalbte auf Erden, der „Christus auf Zeit“. Er vertritt Christus hier auf Erden. Seine Macht übt er als Stellvertreter Christi aus.
Dass Christus in der Inschrift als Schöpfer genannt sein könnte, legen die zwei möglichen Lesarten der Inschrift nahe: Wenn ich die Buchstaben statt in der „verkehrten“ Richtung nämlich in der „richtigen“ Richtung lese, dann lese ich statt der Buchstabenfolge „SC” am Ende des Satzes die Buchstabenfolge „CS“ am Anfang des Satzes. „CS“ ist laut dem im mittelalterlichen Lehrbetrieb fest verankerten Standard-Nachschlagewerk „Etymologiae“, das von Isidor von Sevilla im siebenten Jahrhundert verfasst worden ist, eine alte lateinische Schreibweise für den Buchstaben „X“. (8) Und „X“ ist laut Isidor eine Abkürzung für „Christus“. Als einziger lateinischer Buchstabe hat das „X“ einen Zahlenwert, nämlich „10“. Und da das „X“ von rechts nach links gelesen an zehnter Stelle steht, kann „X“ zusammen mit „SC“ so gelesen werden: „Christus SCulpsit.“ „Christus hat es geschaffen.“ Der in der Inschrift gesuchte Name des Schöpfers lautet also „Christus“. In den Fesseln des Jägers wird der Name Christus konkretisiert: Jesus Christus ist der Schöpfer des Lebens, und er ist das Leben.

 

KAISER LOTHAR III. SIGNIERT DEN JAGDFRIES

Erstes Königsmonogramm Lothars III., für Rheinau, Worms 1125

Kaiser Lothar III. hat den Jagdfries mit seinem ersten Königsmonogramm signiert. Das erste Königsmonogramm Lothars III. ist so konstruiert, dass der Name Lothars in eine doppelte Kreisform eingepasst ist, die exakt der doppelten Halbkreisform der Blendarkade, die das Relief umkleidet, entspricht. Das erste Könisgsmonogramm Lothars III. ist unter den Monogrammen der römischen Könige und Kaiser genauso singulär wie das zentrale Jagdfriesrelief unter den Skulpturen.

Das Konstruktionsprinzip des ersten Königsmonogramms Lothars III. und des zentralen Jagdfriesreliefs stimmen überein

 

KAISER LOTHAR III. ALS HERRSCHER DER WELT

Chrismon zwischen zwei Löwen, Hauptportal der Kathedrale von Jaca
Links: Rota als T-förmige Erdkarte, Komputistische Sammelhandschrift, Mainz, 810-813 / Mitte: Konstruktionsprinzip des Chrismons in Jaca / Rechts: Rautenförmiges Diagramm der Welt, Astronomische Sammelhandschrift, Salzburg, um 818
Links: Rota Papst Paschalis II. (1099-1118) / Rechts: Rautenform im Monogramm Karl der Große, für Schweigen, Bad Hersfeld 802

Das Konstruktionsprinzip der königlichen, kaiserlichen und päpstlichen Monogramme basiert auf dem Chrismon. Am Hauptportal der Kathedrale von Jaca ist das Chrismon zwischen zwei Löwen dargestellt. Das Konstruktionsprinzip des Chrismons ist dasselbe wie auf den mittelalterlichen Weltkarten, auf denen die damals bekannten Erdteile Europa, Asien und Afrika entweder in Rauten- oder in Kreisform dargestellt sind.
Wie bei der als Rota dargestellten Weltkarte fehlt auch im ersten Königsmonogramm Lothars III. der obere Kreuzbalken. Analog zu den vier Himmelsrichtungen auf der rautenförmigen Weltkarte sind die Buchstaben „V, R, S, L“ kreuzförmig in den Spitzen angeordnet.

 

KAISER LOTHAR III. ALS HERRSCHER DER WELT

Links: Majestas Domini, Lorscher Evangeliar, Aachen, um 810 / Rechts: Projektion des ersten Königsmonogramms Lothars III. auf die Majestas Domini des Lorscher Evangeliars

Kreuzförmig in den Spitzen einer Raute sind auch die Evangelistensymbole in karolingischen Darstellungen der Majestas Domini angeordnet.

Links: Projektion des ersten Königsmonogramms Lothars III. auf das Monogramm Karls des Großen für Schweigen / Rechts: Projektion des Jagdfrieszentrums auf die Rota von Papst Paschalis II.

Auf dem Monogramm Karls des Großen und auf dem ersten Königsmonogramm Lothars III. entsprechen sich die drei Buchstaben „R, S, L“ und deren Anordnung. Dem Buchstaben „V“ im ersten Königsmonogramm Lothars III. entspricht die obere Hälfte des Buchstaben „K“ im Monogramm Karls des Großen.
Projiziert man das Jagdfrieszentrum auf die Rota des Papstes Paschalis II., dann stehen die Namen „Petrus“ und „Paulus“ auf der Rota des Papstes unter den Körpern der Hasen und der Name „Paschalis“ unter dem Körper des gefesselten Jägers.
Da die Stiftskirche Königslutter den Apostelfürsten Petrus und Paulus geweiht hat, liegt es nahe, in den beiden Hasen deren Verkörperungen zu sehen und im gefesselten Jäger den Stifter Kaiser Lothar III.

 

CHRISTUS LOTHARIUS

Bezeichnet man Lothar III. als den Gesalbten, also als „Christus“, dann ergibt sich der Namenszug „Christus Lotharius“. Dieser Namenszug weist 17 Buchstaben auf. Genauso viele Szenen sind im Jagdfries der Stiftskirche Königslutter zu finden. Da die Jagdfriesinschrift in 17 Silben unterteilt ist, können die 17 Silben über den 17 Buchstaben des Namenszuges und den 17 Jagdszenen angeordnet werden. In dieser Anordnung steht der Buchstabe „L“ unter dem zentralen Jagdfriesrelief und unter der Silbe „RI“.

Kongruenz zwischen den Silben der Inschrift, den Jagdfriesreliefs sowie dem Namenszug „CHRISTVS LOTHARIVS“
Links: Die Buchstaben „R“, „I“, „L“ im Zentrum der 17 Jagdszenen. / Rechts: Die Buchstaben „R“, „I“, „L“ im Zentrum des ersten Königsmonogramms Lothars III.

Die Anordnung der drei Buchstaben „R“, „I“ und „L“ entspricht genau dem ersten Königsmonogramm Lothars III. Die Buchstaben „RI“ bilden in der Jagdfriesinschrift im Zentrum die Spiegelachse für die Buchstaben „RI“ in den Namen „CHRISTUS“ und „LOTHARIUS“. Im Zentrum des Namenszuges „CHRISTUSLOTHARIUS“ steht der Buchstabe „L“.

 

DER BUCHSTABE DES TODES IM MONOGRAMM

Der Buchstabe „Θ“ (Theta) im ersten Königsmonogramm Lothars III.

Die Monogramme der römischen Könige und Kaiser im Mittelalter geben verschlüsselt Einblick in das jeweils individuelle Herrschaftsverständnis. Der Marburger Historiker Peter Rück betont: „Kein Buchstabe wird ins Monogramm gesetzt, der nicht eine spirituelle Bedeutung hätte und in allererster Linie dem Lob Christi dienen würde.“ (9) Zur Entschlüsselung genügt es nicht, aus den Buchstaben des Monogramms einzelne Worte zu bilden: „Vielmehr“, schreibt Peter Rück, „kann ein Monogramm erst dann als entschlüsselt gelten, wenn aus den Worten eine Devise, ein sinnvoller Satz gebildet ist.“ (10) Bislang konnte kein einziges Monogramm der römischen Könige und Kaiser des Mittelalters entschlüsselt werden. Mit Hilfe des Jagdfrieses ist das am Beispiel des ersten Königsmonogramms Lothars III. zum ersten Mal möglich.
Der Name Lothars III. wird üblicherweise in neun Buchstaben geschrieben: LOTHARIUS. Doch im ersten Königsmonogramm wurde den neun lateinischen Buchstaben noch der griechische Buchstabe „Theta“ (Θ) hinzugefügt. Laut Isidor von Sevilla ist das Theta der zweite von fünf mystischen Buchstaben des griechischen Alphabets. Theta bezeichnet den Tod: „Denn die Richter setzen dieses Omikron den Namen (der Personen) voran, über die sie die Todesstrafe verhängen. Er heißt Theta von Thanatos, das heißt Tod. Deshalb hat er auch einen Strich durch die Mitte, das Zeichen des Todes.“ (11) Der Buchstabe Theta wird im ersten Königsmonogramm Lothars III. verwendet, um einen Bezug zu der Schreibweise des Namens Christi herzustellen, denn der Buchstabe „Θ“ steht auch im Zentrum des griechischen Namens „IXΘYC“.

Links: Der Buchstabe „Θ“ (Theta) / Mitte: Das Kreuz Christi, Ravenna, Sant’ Apollinare in Classe, 546-549 / Rechts: Der Schriftzug „IXΘYC“ im Kreuz Christi
Der Schriftzug „IXΘYC“ auf der Grabstele der Licinia, heute im Thermenmuseum Rom, 3. Jh.

Der Name „IXΘYC“ ist das Akrostichon für „Jesous Christos Theou Hyios Soter“, was übersetzt bedeutet: „Jesus, der Gesalbte, Gottes Sohn, der Erlöser.“ Die lateinische Schreibweise des Namens lautet „ICHTHYS“.
Ichthys ist griechisch und bedeutet „Fisch“. Im Lexikon der christlichen Ikonografie wird die symbolische Bedeutung des Fisches erläutert: „Der Fisch wird zum Sinnbild der Gläubigen, die von Christus als dem ‘Fischer der Sterblichen’ und den Aposteln als den Menschenfischern gefangen werden, wobei der Fischfang ‘Sinnbild der Rettung des Christen aus dem gefahrvollen Meere der Welt und Sinnbild der Wiedergeburt aus der Taufe’ ist.“

 

DIE DEVISE LOTHARS III.

Das Wort „VARIO“ im Zentrum der Jagdfriesinschrift
Links: VARIO / Mitte: ICHTΘYS / Rechts: VARIO L(othario) ICHTΘYS
Die Worte „VARIO“ und „ICHTΘYS“ in der Projektion des ersten Königsmonogramms auf das Jagdfrieszentrum

Legt man das erste Königsmonogramm Lothars auf das zentrale Jagdfriesmotiv auf, dann lassen sich die drei Buchstaben „I“, „C“ und „Y“ dem Namen „LOTHΘARIVS“ so zuordnen, dass sich ein sinnvoller Satz ergibt, der das Motto bzw. die Herrschaftsdevise Kaiser Lothars III. formuliert.
Und zwar bilden die zehn Buchstaben „LOTHΘARIVS“ zusammen mit den drei Buchstaben „ICY“ die Erlösungsbotschaft: „VARIO L(othario) ICHTΘYS“. „Dem unbeständigen Lothar ist Jesus Christus, der Sohn Gottes, der Erlöser.“ Allerdings ist die Schreibweise „ICHTΘYS“ ungewöhnlich.

 

DIE RICHTIGE SCHREIBWEISE

Die Devise Lothars III. in richtiger Schreibweise

Die allgemein gültige griechische Schreibweise des Wortes „Fisch“ ist in San Vitale zu Ravenna an prägnanter Stelle bis heute überliefert: „IXΘYC“. Dieselbe Schreibweise ergibt sich, sobald man die dreidimensionale Darstellung der beiden Fesseln des Jägers mit den hier konstruierten Buchstaben „Y“, „C“, „S“, „C“ und „I“ in das Monogramm einbezieht. Zusammen mit den zehn Buchstaben für „LOTHΘARIVS“ erhalte ich jetzt 15 Buchstaben. Da die beiden Buchstaben „TH“ durch das Theta (Θ) gedoppelt erscheinen, können sie gestrichen werden. Die beiden Buchstaben „CS“ können – wie oben gezeigt – durch ein „X“ ersetzt werden. Der griechische Buchstabe Sigma wird in Handschriften vereinfachend als Majuskel „C“ oder Minuskel „c“ geschrieben. Das „S“ als Anfangsbuchstabe der lateinischen Schreibweise „Sigma“ kann daher durch ein „C“ ersetzt werden. (13) Durch den Wegfall der Buchstaben „TH“ und die Umwandlung der Buchstaben „CS“ in „X“ und „S“ in „C“ kann ich jetzt die ungewöhnliche Schreibweise „ICHTΘYS“ für „Fisch“ durch die übliche griechische Schreibweise „IXΘYC“ ersetzen.

 

DAS CHRISMON

Der im ersten Königsmonogramm Lothars III. fehlende Buchstabe „X“ steht im Zentrum des kaiserlichen Monogramms Lothars III.

Links: Monogramm Kaiser Lothar III., für Einsiedeln, Königslutter 1136 / Mitte: Konstruktionsprinzip des kaiserlichen Monogramms Lothars III. / Rechts: Kombination des ersten Königsmonogramms mit dem kaiserlichen Monogramm Lothars III.

Am 4. Juni 1133 wird Lothar in Rom zum Kaiser gekrönt. Sein erstes Königsmonogramm kann in das kaiserliche Monogramm so integriert werden, dass beide Monogramme gut sichtbar vereint sind. Streicht man die Doppelungen des kaiserlichen Monogramms weg, dann ergänzen sich das „X“ und das Kreuz des kaiserlichen Monogramms und das erste Königsmonogramm schlüssig zu einem Chrismon, wie es uns u. a. im Türsturz des Hauptportals der Kathedrale von Jaca vor Augen steht.
Die Kombination aus dem ersten Königsmonogramm und dem kaiserlichen Monogramm Lothars III. bildet wie in Jaca ein achtspeichiges Rad.

Links: Zum Chrismon reduzierte Kombination des ersten Königsmonogramms mit dem kaiserlichen Monogramm / Rechts: Projektion des Chrismons auf das Jagdfrieszentrum

An die Stelle der beiden Löwen treten jetzt die beiden Hasen, deren Silhouetten sich so prägnant in die Monogrammzeichen einpassen, dass davon ausgegangen werden muss, dass Lothar sein erstes Königsmonogramm zielgerichtet mit Blick auf sein späteres Kaisertum dergestalt entwerfen ließ, dass sich sowohl das kaiserliche Monogramm als auch das Jagdfrieszentrum hier einpassen ließen.

 

DER VOLLZIEHUNGSSTRICH

Christus zwischen Ochs und Esel, Sant’ Ambrogio, Mailand

Die Darstellungen in Jaca und in Königslutter erinnern zudem an die im Mittelalter emblematisierten Bilder, auf denen der neugeborene Erlöser zwischen Ochs und Esel liegt. Der neugeborene Christus bildet z.B. auf einem Relief der Kanzel von San Ambrogio in Mailand die Spiegelachse für die symmetrische Anordnung von Ochse und Esel. Diese Darstellung basiert auf dem im 8. oder 9. Jahrhunderts entstandenen apokryphen Kindheitsevangelium Jesu: „Am dritten Tag nach der Geburt unseres Herrn Jesus Christus trat die seligste Maria aus der Höhle, ging in einen Stall hinein und legte ihren Knaben in eine Krippe, und Ochs und Esel beteten ihn an, […] während sie ihn zwischen sich hatten.

Links: Das „V“ als Vollziehungsstrich im Monogramm Karls des Großen, für St. Hyppolite, Düren 702 / Mitte: Das „Y“ als Vollziehungsstrich im Monogramm Karls des Großen, für Schweigen, Bad Hersfeld 802 / Rechts: Projektionen des Monogramms Karls des Großen auf das zentrale Jagdfriesrelief

Da erfüllte sich, was durch den Propheten Habakuk verkündet ist, der sagt: Zwischen zwei Tieren wirst du erkannt werden.“ (14) Die Projektion des ersten Königsmonogramms Lothars III. auf das Jagdfrieszentrum gibt zwischen zwei Tieren die drei Buchstaben „I“ (als Buchstabe aus dem Monogramm), „C“ und „Y“ (als Buchstaben der Handfessel) zu erkennen. Zwischen zwei Tieren wird daher die Botschaft „Iesus Christus Vita“ formuliert. Der Buchstabe „Y“ bzw. „V“ zwischen den Hasenköpfen fungiert dabei als „Vollziehungsstrich“ Lothars III. Der Vollziehungsstrich ist der eigenhändige Anteil des Herrschers an seinem Monogramm. Das kompliziert gestaltete Herrscher-Monogramm auf einer mittelalterlichen Urkunde wurde von einem Notar vorgefertigt. Der jeweilige Herrscher vervollständigte das vorgefertigte Monogramm dann mit eigener Hand durch den sogenannten Vollziehungsstrich. Vergleichbar einer heutigen eigenhändigen Unterschrift wird mit dem Vollziehungsstrich die Rechtsgültigkeit der ausgestellten Urkunde durch den eigenhändigen Anteil des Herrschers betont. Peter Rück führt aus, dass die Gestaltung der Monogramme der römischen Könige und Kaiser auf dem Monogramm Karls des Großen aufbaut und am Anfang der Signaturen stehe, denn das Monogramm bzw. die Unterschrift, nicht das Siegel, sei das ursprüngliche Beglaubigungszeichen des Königs. (15) Im Monogramm Karls des Großen bilden die Buchstaben „V“ oder „Y“ im Zentrum einer Raute den Vollziehungsstrich des ansonsten schreibunkundigen Herrschers. Analog dazu stehen die Buchstaben „Y“ bzw. „V“ im Zentrum des Jagdfrieses.

 

LEBEN ODER TOD

Der Buchstabe „Y“ bzw. „V“ als Vollziehungestrich
Die Teufelsfratze als „Vollziehungsstrich“

In Analogie zum Monogramm Karls des Großen kann der Buchstabe „Y“ bzw. „V“ im Buchstaben „Theta“ als Vollziehungsstrich definiert werden. Diesen „Strich“ vollzieht der Betrachter selber, indem er aus den Fesseln der Hasenmäuler entweder die Teufelsfratze im Vexierbild formt oder den Buchstaben „Y“ bzw. „V“. Mit dem Vexierbild triumphiert der Tod, mit dem Buchstaben „Y“ bzw. „V“ trumphiert das Leben.

 

DER HASE IST DER SCHLÜSSEL

Lothar III. lehnt sich mit seinem ersten Königsmonogramm an das Monogramm des Papstes an. Er ist der einzige römische König, der das tut. Im Papstmonogramm stehen die Namen von Petrus und Paulus über dem Namen des Papstes. Wenn ich das Monogramm des Papstes auf das zentrale Relief projiziere, dann stehen die Namen der Apostel Petrus und Paulus genau unter den Körpern der beiden Hasen und der Name des Papstes genau unter dem Körper des gefesselten Jägers. Die beiden Hasen, die zunächst getötet werden und am Ende wieder auferstehen, verkörpern die Apostel Petrus und Paulus. Kaiser Nero lässt die Apostel verfolgen und hinrichten: Petrus wird kopfabwärts gekreuzigt, Paulus enthauptet. Ihre Verfolgung und ihr Märtyrertod gleichen dem Schicksal der beiden Hasen in der nördlichen Frieshälfte: Der Biss des Hundes in den Nacken des Hasen stellt allegorisch die Enthauptung des Apostels Paulus dar. Der kopfabwärts vom Jäger an den Hinterläufen an einem Stock aufgehängte Hase verkörpert den kopfabwärts gekreuzigten Apostel Petrus.

Links: Der Biss des Hundes in den Nacken des Hasen als Allegorie der Enthauptung des Apostels Paulus / Mitte: Der kopfabwärts aufgehängte Hase als Allegorie des kopfabwärts gekreuzigten Apostels Petrus / Rechts: Der Name Petrus als Schlüssel, Echternacher Evangelistar Kaiser Heinrichs III., fol. 111r (Ausschnitt)

Allegorisch verkörpert der Jäger als Herr der Tiere den römischen Kaiser Nero. Deutlich sichtbar trägt der Jäger in der linken Hand den Stock mit dem erlegten Hasen und in der rechten Hand eine Keule. Der Jäger ist also sowohl ein Keulenträger als auch ein Hasenträger. Da das lateinische Wort „claviger“ sowohl „keulentragend“ als auch „Schlüsselträger“ bedeutet, kann der Jäger, der eine Keule und einen Hasen trägt, auch als „keulentragender Schlüsselträger“ bezeichnet werden. Als Schlüssel, den der Jäger trägt, kann der Hase gesehen werden. Auf mehreren mittelalterlichen Darstellungen wird der Schlüssel, den Christus dem Apostel Petrus übergibt, aus den Buchstaben des Namens „PETRUS“ gebildet. Der Schlüssel verkörpert wörtlich den Apostel Petrus. Analog dazu stellt der kopfabwärts am Stock hängende Hase sowohl den Apostel Petrus als auch den „Schlüssel des Himmelreichs“ dar. Mit dem Schlüssel des Himmelreichs verleiht Christus dem Apostel Petrus die sakramentale Macht des Bindens und Lösens und begründet damit dessen Vorrang unter den Aposteln und im weitesten Sinn den Primat des Bischofs von Rom. Die Fesseln, die die beiden Hasen dem Jäger an Händen und Füßen anlegen, symbolisieren die Macht der Apostelfürsten, den Kaiser zu binden und zu lösen. Die Vexierbildfratze offenbart die Bindung Kaiser Neros an das Böse. Das Schicksal Kaiser Neros ist zugleich ein Memento für Kaiser Lothar III., seine Herrschaft im Geiste Christi auszuüben. Politisch gesehen ist das zentrale Jagdfriesrelief eine Allegorie der Unterwerfung des Kaisers durch die Macht Roms. Der Triumph der beiden Hasen über den Jäger ist ein Sinnbild für den Sieg der Kirche über die weltliche Macht. So wie der Jäger der Macht der Hasen unterliegt, so unterliegt der Kaiser der Macht des Papstes und der katholischen Kirche. Petrus und Paulus sind in Königslutter die Patrone der Grabeskirche des Stifter- und Kaiserpaars. Von der Macht des Bösen, die in Königslutter in der Fratze des Teufels sichtbar wird, kann auf Erden nur die Kirche den Menschen erlösen – jedenfalls nach römisch-katholischer Auffassung des Christentums zur Zeit Kaiser Lothars III.

 

DER HIRSCH IST CHRISTUS

Die Hirschjagd in der südlichen Frieshälfte verweist auf den Heiligen Eustachius. Jakobus de Voragine schildert dessen Schicksal in der berühmten „Legenda aurea“. (16)
Der heilige Eustachius gehört zu den 14 Nothelfern und heißt bis zu seiner Taufe Placidus. Placidus wird vom Jäger zum Gejagten, als er einen Hirsch verfolgt, der ihn mit folgenden Worten zur Rede stellt: „O Placide, warum verfolgst du mich? Ich bin dir zu Lieb in dieses Tieres Gestalt erschienen, denn ich bin Christus, […] bin zu dir kommen, daß ich dich durch diesen Hirsch fahe [= fange], den du selber zu jagen wähntest.“ (17)
Der südliche Hornbläser ist der Jäger Placidus, der dem Hirsch nachjagt und im zentralen Relief vom Jäger zum Gejagten geworden ist. Placidus betet den Hirsch an, als dieser zu ihm spricht. Auch der gefesselte Jäger hat die Hände zum Gebet gefaltet. Christus offenbart sich Placidus als Schöpfer der Welt und Placidus bekennt: „Herr, ich glaube, daß du es bist, der alles erschaffen hat und die Irrenden bekehrt.“ (18)
Dieses Glaubensbekenntnis des Placidus wird in Königslutter durch die Fesseln des Jägers formuliert: „Iesus Christus Y(=Vita) Sculpsit.“, „Jesus Christus schuf das Leben.“
Nach seinem Bekenntnis zum Glauben an Jesus Christus als den Schöpfer der Welt wird Placidus getauft und erhält den Namen Eustachius.
Die Vexierbildfratze des Teufels verdeutlicht im Jagdfries das Böse, dem Eustachius nach seiner Taufe ausgeliefert wird, um seinen Glauben zu prüfen. „Nun wird dein Glaube offenbar werden.“, spricht Christus in der Legenda aurea und fährt fort: „Denn darum, daß du ihn verloren hast, wird der Teufel sich grimmig wider dich waffnen, und du wirst viel leiden müssen, um die Krone des Sieges zu erlangen; und du wirst mancherlei erdulden, daß du erniedriget werdest von der hohen Eitelkeit der Welt, und in göttlicher Reichheit werdest erhöhet. Dann verzage nicht, und schaue nicht zurück nach deinem vorigen Ruhm, denn du sollst in den Versuchungen als ein zweiter Job [=Hiob] dich erweisen.“ (19)
Dann formuliert der Hirsch die Erlösungsbotschaft: „Bist du denn erniedrigt, so will ich zu dir kommen und dich erhöhen zu deinen vorigen Ehren; doch sprich, willst du die Versuchungen jetzt erleiden oder am Ende deines Lebens?“ (20)
Eustachius antwortet: „Herr, soll es sein, so laß alsbald die Versuchung über mich kommen; doch gieb mir Kraft zum Leiden.“ (21)
Alles Leid, das Eustachius danach widerfährt, hat der Bildhauer in Königslutter mit der Vexierbildfratze des Teufels in den Hasenköpfen szenisch pointiert. Wie Eustachius erträgt der Jäger in Königslutter dieses Leid geduldig mit zum Gebet gefalteten Händen, doch indem er den Kopf dem Hirsch zuwendet, der von links naht, scheint er zugleich seine Not zu beklagen. Der Bildhauer stellt die Verzweiflung des Eustachius im Jagdfries sehr eindrucksvoll durch die aufgerissenen Augen und den geöffneten Mund des gefesselten Jägers dar, betont aber zugleich auch dessen Gottvertrauen durch die zum Gebet gefalteten Hände, deren Fesseln er exakt in der Friesmitte angeordnet hat.
Hiob gerät wie Eustachius ohne erkennbaren Grund ins Elend. Hiobs Freunde behaupten, er sei ins Elend gefallen, weil er Böses getan habe. Hiob selbst ist dagegen überzeugt, er sei rein und ohne Sünde. Beiden, den Freunden Hiobs und Hiob selber, erteilt der junge Elihu einen Verweis, denn keiner könne Gottes Wirken begreifen: „Du [Hiob] sprachst […]: Rein bin ich und ohne Sünde, makellos und ohne Schuld. Vorwürfe sucht Gott gegen mich zu finden, er sieht mich an als seinen Feind. Meine Füße legt er in den Block, er überwacht alle meine Pfade. Da bist du nicht im Recht, sage ich dir, denn Gott ist größer als der Mensch. Weshalb hast du mit ihm gehadert, weil er all deinen Worten nicht erwidert?“ (Hiob 33, 8-13) Wenn Gott nicht gehört werde, liege das am Menschen, denn nur „im Traum, in der nächtlichen Vision, wenn tiefer Schlaf auf die Menschen fällt, im Schlummer auf dem Lager“ öffne „er das Ohr der Menschen“ und bestätige „die Warnung für sie, um den Menschen von seinem Tun abzuwenden und den Hochmut vom Mann abzuhauen, um seine Seele zurückzuhalten von der Grube und sein Leben davon, in den Spieß zu rennen.“ (Hiob 13, 9-32) Elihu glaubt an die Liebe Gottes, der die Seinen aus der Bedrängnis erretten wird: „Den Geplagten rettet Gott durch seine Plage und öffnet durch Bedrängnis sein Ohr. Auch dich [Hiob] entreißt er dem Rachen der Bedrängnis, in Weite stehst du, nicht in Enge, voll ist deine Tafel von fetten Speisen.“ (Hiob 36, 15-16) Im Jagdfries naht Christus als Hirsch, um den Jäger dem Rachen des Bösen zu entreißen. Das geschieht endgültig aber erst am Ende der Zeit. Bis dahin hat Christus (laut römisch-katholischer Doktrin) diese Aufgabe der Kirche übertragen, die durch die beiden Hasen dargestellt wird, die Petrus und Paulus verkörpern. Die Apostelfürsten haben die Macht zur Vergebung der Schuld, die Macht, zu binden und zu lösen. Die Kirche hat aber keine Macht, das Böse an sich zu vernichten. Sie selber ist den Versuchungen des Bösen beständig ausgeliefert. Die Fesseln des Bösen zu lösen vermag nur der in den Fesseln als Buchstaben sichtbare Logos, Christus.

 

Anmerkungen

(1) Der nachfolgende Artikel gibt den Inhalt eines Vortrags wieder, der am 24. März 2017 im Rathaus Königslutter am Elm gehalten wurde. Der Vortrag ist hier als Videoaufzeichnung zu sehen.
(2) Aurelius Augustinus, De trinitate, Neu übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Johann Kreuzer, Felix Meiner Verlag: Hamburg 2001, Buch I, 2. 4
(3) Vgl.: Gundolf Precht, Das Grabmal des Lucius Poblicius, Rekonstruktion und Aufbau, Römisch-Germanisches Museum der Stadt Köln: Köln 1979, S. 52 ff.
(4) Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla, Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Lenelotte Müller, marixverlag: Wiesbaden 2008, S. 21
(5) Die Enzyklopädie, wie Anm. 4
(6) Die Enzyklopädie, wie Anm. 4
(7) Vgl.: Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs, Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, Deutscher Taschenbuch Verlag: München 1990
(8) Die Enzyklopädie, wie Anm. 4, S. 10 und S. 25
(9) Peter Rück, Bildberichte vom König, Kanzlerzeichen, königliche Monogramme und das Signet der salischen Dynastie, Institut für Historische Hilfswissenschaften: Marburg an der Lahn 1996, S. 19
(10) Peter Rück, wie Anm. 9, S. 19-20
(11) Die Enzyklopädie, wie Anm. 4, S. 22
(12) „Dieses Bild vom ‘Fischfang’ wird von Tertullian in das eines ‘Fischteiches’ verwandelt, in dem Christus der Ichthys, der große Fisch ist, während die Gläubigen als die ‘pisciculi’ erscheinen. Dass zur Bezeichnung Christi ‘Ichthys’ gebraucht wurde, hängt vielleicht mit der in Ichthys gegebenen Kürzung des Namens Jesu Christi zusammen. Ambrosius greift das Bild vom Fisch auf, der durch die Angel Petri, die heiligt, nicht tötet, herausgezogen wird – in seinem Bekennermund findet sich die Edelmünze für die Apostel und für Christus. Nach Zeno von Verona ist Christus der Fisch, der von den Toten Heraufgestiegene, aus dessen Mund 2 Denare, die 2 Testamente, hervorgegangen sind. Nach Augustinus ist Christus der Fisch, weil er im Abgrund der Sterblichkeit wie in tiefen Gewässern lebendig lebt, er ist der große Fisch, der als erster aus dem Meere stieg und im Himmel sitzt, um für uns Fürbitte einzulegen, er ist der aus der Meerestiefe gehobene Fisch, der am ‘Tisch’ gespeist wird…, ‘denn dazu ward er aus der Tiefe gehoben, das trockene Land zu nähren’, er ist der Fisch, ‘dem gottverbundenen Land zur Speise’.“ (Lexikon der christlichen Ikonographie, Herausgegeben von Engelbert Kirschbaum SJ +, Zweiter Band, Allegemeine Ikonographie, Fabelwesen – Kynokephalen, Herder: Rom, Freiburg, Basel, Wien 1979, S. 35) „Der Fischfang mit Angel oder Netz ist eines der ältesten und häufigsten Bilder in der vorkonstantinischen Plastik und Malerei. […] Innerhalb der Grabsymbolik erscheint der Fischfang u. a. auch schon in der vorchristlichen Kunst, danach wird er Heils- und Taufsymbol.“ (Lexikon, wie oben, S. 39) Die Inschrift auf dem Grabstein des Pektorius um 200 lautet: „Als Gotteskind des himmlischen Fischers empfange, o Sterblicher, mit einem Herzen voll Ehrfurcht die Gabe der Unsterblichkeit […]. Empfange […] die honigsüße Nahrung, die der Retter den Heiligen reicht; iss und trink, du hältst den ICHTHYS in Händen.“ (Zit.n.: Schmidt, Heinrich und Margarete, Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst, München 1989, S. 56) Der Christus-Ichthys wird auch als eucharistische Speise dargestellt: „Auf einer katalanischen Altartafel halten die Jünger je einen Fisch in Händen. […] Auf anderen Abendmahlsbildern ist es Judas, der den Christusfisch ergreift und unter dem Tisch oder hinter seinem Rücken versteckt. Er will Christus nicht in sich aufnehmen, sondern heimlich ausliefern.“ (Schmidt, wie oben, S. 56) Fische sind auch das Sinnbild für die Christen: „Christus macht durch die Taufe das Wasser zum Lebenselement der Christen: ‘Wir aber werden nach der Ähnlichkeit unseres Ichthys, Jesus Christus, im Wasser geboren, und nur durch Verharren im Wasser finden wir das Heil.’ (Tertullian) Häufig werden die pisciculi [lat.: Fischlein] zusammen mit einem Ankerkreuz abgebildet, einem frühen Zeichen christlicher Hoffnung. […] Christus als ‘Evangelischer Fischer’ entreißt die Seinen dem gottfeindlichen Völkermeer. Diese Vorstellung leitet sich her einmal von dem ‘Fischzug des Petrus’, der anschließend von Christus zum ‘Menschenfischer’ berufen wird, zum anderen von den Psalmen, in denen das brodelnde Meer einige Male zum Sinnbild für das sich gegen Gott erhebende Völkermeer wird (Ps. 46 und 93). Beide Deutungen haben die Kirchenväter aufgenommen: ‘Jesus fängt dich mit der Angel, nicht um dich zu töten, sondern um dir durch den Tod das Leben zu geben.’ (Cyrill von Jerusalem, 4. Jh.) Oder ein Vers aus einem Christushymnus des Clemens von Alexandrien, 2./3.Jh.: ‘Ruderer der Schwachen, die gerettet werden aus dem bösen Meer, aus den wilden Wogen, lockend deine zarten Fischlein mit dem süßen Brot des Lebens.’ Das Bild des ‘Evangelischen Fischers’ Christus, der angelnd am Ufer sitzt oder seine Fische nach Hause trägt, ist […] in der frühchristlichen Kunst, in den Katakomben und auf Sarkophagen zu finden.“ (Schmidt, wie oben, S. 57-58)
(13) Das Sigma ist der 18. Buchstabe des griechischen Alphabets. Der griechische Buchstabe Sigma wurde in hellenistischer Zeit zu einer lunaren mondsichelförmigen Form vereinfacht, die wie der lateinische Buchstabe „C“ geschrieben wird.
(14) Apokryphen zum Alten und Neuen Testament, Herausgegeben, eingeleitet und erläutert von Alfred Schindler, Manesse Verlag: Zürich 1998, S. 465
(15) Peter Rück, wie Anm. 9, S. 15. Das auf das Jagdfrieszentrum aufgelegte erste Königsmonogramm Kaiser Lothars gibt den Namen „IXΘYC“ in Verbindung mit dem Bild der Hasen zu erkennen. Die Verbindung zwischen Fisch und Hase finden wir in der Natur in Gestalt der Aplysien: „Die Aplysien (Synonyma: Meerhase, Seehase, Kuttelfisch, Giftkuttel, lat.: lepus marinus, offa informis, ital.: fessa di mare, franz.: chat marin.), zur Ordnung der Opisthobranchiaten, Unterordnung Teribranchiaten, gehörende nackte Schnecken, bewohnen in zahlreichen Arten die Küsten der wärmenden Meere; […] Seit Jahrtausenden stehen die Aplysien im Rufe hoher Giftigkeit. Ihr Gift wurde von den alten Griechen und Römern als das verderblichste aller Gifte angesprochen. Eine gewisse Berühmtheit erlangten die Seehasen durch die Angabe, der Kaiser Domitian habe seinen Bruder Titus mit ihrem Gift getötet. (Corpus Scriptorum Historiae Byzantinae. Michaelis Glycae Annales, pars III, Ausg. von J. Becker, Bonn 1836, S. 445.) Auch Nero soll sich missliebiger Personen durch das gleiche Mittel entledigt haben. Ebenso wurde der Tod des Königs der Cyrenäer Arcesilaus auf Einverleibung eines aus Seehasen bereiteten Trankes zurückgeführt. (Plutarchus, de Mulier. virtut. S. 260, Zit. n.: J. G. Schneider, Nicandi Alexipharmaca, Halle 1792, Anhang S. 227ff.) Schon das Fangen von Seehasen war im Altertum verdächtig. Plinius (Caii Plinii Secundi Historiae Naturalis Libr. 32, cap. 1) berichtet, dass die Berührung allein, ja sogar der Anblick der Tiere gefährlich sei und bei Schwangeren Übelkeit, Erbrechen und Abgang der Leibesfrucht bewirke.“ (Dr. phil. et med. Ferdinand Flury, Über das Aplysiengift, In: Archiv für experimentelle Pathologie und Pharmakologie, 2. November 1915, volume 79, Issue 2-3, pp 250-263) Isidor von Sevilla schreibt: „Den bekannten Arten der Fische wurden aber später allmählich Namen beigegeben entweder von der Ähnlichkeit zu Landtieren her oder vom Aussehen her oder von den Verhaltensweisen [sei es von der Farbe, der Gestalt oder der Gestalt oder dem Geschlecht]. Nach der Ähnlichkeit zu Landtieren: wie die ‘ranae’ (Froschfische = Seeteufel). […] Der lepus (Meerhase, Giftkuttel) ist von der Ähnlichkeit des Kopfes her benannt worden.“ (Die Enzyklopädie, wie Anm. 2, S. 471-473) In Kochbüchern wird der Froschfisch=Seeteufel so beschrieben: Der Seeteufel ist ein sehr delikater Speisefisch mit wunderbar festem, weißem Fleisch. Seine schwarze Haut muss allerdings vor der Zubereitung in mehreren kleinen Schichten behutsam abgezogen werden. Ebenso muss der extrem große breite abgeflachte Kopf mit dem riesigen, mit kräftigen Zähnen bewehrten Maul, das an die Vexierbildfratze im zentralen Jagdfries erinnert, entfernt werden.
(16) Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz, Mit einem Nachwort von Walter Berschin, Gütersloh 1955, S. 631. Unter Kaiser Trajan ist Eustachius ein erfolgreicher Feldherr. Doch nach seiner Bekehrung stürzt er ins Unglück. Er verliert wie Hiob Hab und Gut. Völlig verarmt muss er in die Fremde ziehen. Um die Überfahrt nach Ägypten bezahlen zu können, wird er gezwungen, seine Gattin in die Sklaverei zu verkaufen und in Ägypten werden seine beiden Söhne von wilden Tieren verschleppt. Er selbst findet nach 15 Jahren, die er als Knecht in der Fremde verbracht hat, Frau und Kinder wieder, wird von Kaiser Trajan als Feldherr zurückberufen, erringt an der Spitze der Legionen glänzende Siege und erlangt wiederum Ruhm und Anerkennung. Bis hierhin gleicht das Schicksal von Eustachius dem von Hiob, der nach seiner geduldig ertragenen Leidenszeit „fette Speisen“ empfängt und weit mehr Wohlstand und Ansehen erwirbt als je zuvor. Eustachius aber erleidet unter dem Nachfolger Trajans, Kaiser Hadrian, im Jahre 118 n. Chr. den Märtyrertod, weil er sich als Christ geweigert hat, den Göttern zu opfern.
(17) Die Legenda, wie Anm. 16, S.631. In Kapitel 30 wird im „Physiologus“ der Hirsch beschrieben: „David sagt: Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. Der Physiologus hat vomHirsch gesagt, dass er gar feindlich sei dem Drachen. Wenn der Drache vor dem Hirsch flieht in die Spalten der Erde, geht der Hirsch hin und füllt sich die Höhle seines Bauches mit Quellwasser, und er speit es aus in die Spalten der Erde, und so bringt er den Drachen heraus und schlägt ihn nieder und tötet ihn. So hat auch unser Herr getötet den großen Drachen, den Teufel, durch die himmlischen Wasser, nämlich durch die göttlichen Heilslehren. Denn nicht vermag der Drache dem Wasser und nicht der Teufel dem göttlichen Wort standzuhalten. Der Herr hat durch seine Gegenwart den großen Drachen verfolgt. Da verbarg sich der Teufel in die tieferen Schichten der Erde, wie in einem großen Spalt sich bergend, und der Herr ergoss aus seiner Seite Wasser und Blut, und nahm von uns hinweg den Drachen durch das Bad der Wiedergeburt, und nahm hinweg jegliche in uns verborgene teuflische Gewalt. Auch du, sofern du wohlberaten bist in deinem Herzen, ruf die Evangelien an, und es wird dir gesagt werden: Du sollst nicht ehebrechen, nicht huren, nicht stehlen. Wenn du von dem geistlichen Wasser kostest, wirst du alle Schlechtigkeit ausspeien, und wird dein Herz ein Tempel Gottes, und der Geist wohnt in dir.“ (Der Physiologus, Tiere und ihre Symbolik, Übertragen und erläutert von Otto Seel. Artemis & Winkler Verlag: Düsseldorf und Zürich 2000, S. 43-44) Im Jagdfries ist die „in uns selbst verborgene teuflische Gewalt“ mit Hilfe des Vexierbildes als Teufelsfratze visualisierbar, die im Abbild der beiden Hasenköpfe verborgen ist. Da ein Vexierbild nur in der Phantasie des Betrachters entstehen kann, ist die „teuflische Gewalt“ also „in uns selbst verborgen“. Der Betrachter erblickt im Bild der Hasenfratze das Spiegelbild seines eigenen Begehrens, das ihn genauso bindet wie den Jäger.
(18) Die Legenda, wie Anm. 16, S. 631
(19) Die Legenda, wie Anm. 16, S. 632
(20) Die Legenda, wie Anm. 19

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